Leben im Verborgenen

Es gibt Vogelarten, deren Lebensweise uns noch viele offene Fragen beschwert. Hierzu zählt sicherlich die Wasserralle. Durch ihre heimliche Lebensweise im dichten Schilfdschungel ist sie nur schwer zu Gesicht zu bekommen und wenn es gelingt, bleibt dem Beobachter oft nur die Erinnerung an einen weghuschenden, etwa amselgroßen Vogel mit länglichem rotem Schnabel.

Besucht man an einem lauen Frühlingsabend einmal einen Weiher oder See, dessen Ufer einen breiten Schilfbestand aufweist und verweilt man die untergehende Sonne betrachtend, so wird man nicht selten von einem Ruf aus dem Schilf aufgeschreckt, der eher an ein angstvoll quiekendes Ferkel als an einen Vogel erinnert. Dabei stammt der Ruf sehr wohl von einem Vogel - von der Wasserralle. Mit ihrem kruiit-kruuiit....kruuuit gibt sie kund, daß ihr der Beobachter nicht verborgen geblieben ist.

Das Wissen um die Lebensweise der Wasserralle ist noch immer recht spärlich. Intensive Freilandforschung kombiniert mit Volierenbeobachtungen brachten nun erste Antworten auf die vielen offenen Fragen um das Leben dieser Rallenart.

Die Wasserralle (Rallus aquaticus) ist der einzige Vertreter ihrer Gattung in Mitteleuropa. Von den anderen Kleinrallenarten der Gattungen Porzana und Crex läßt sie sich durch den langen roten Schnabel unterscheiden, der die Kopflänge deutlich übersteigt.

Wasserrallen besiedeln zur Brutzeit Schilf-, Binsen- oder Großseggengebiete, die kleine, flache Wasserstellen aufweisen. Ein Wasserstand von einigen cm ist für das Brutgebiet optimal. Höhere Wasserstände können dann genutzt werden, wenn die Knickschicht des alten Schilfes einen Schwimmteppich bildet, auf dem die Wasserralle laufen kann. Dabei bewegt sie sich vorsichtig zwischen den Halmen hindurch. Geknickte Halme werden nach Möglichkeit unterschlüpft, denn die Wasserralle klettert, im Gegensatz zur Kleinralle, nur ungern. Fällt der Wasserspiegel und trocknet das Schilf aus, verlassen die Rallen das Brutgebiet wieder, oft auch dann, wenn sie bereits beim Brutgeschäft waren.

Wasserrallen sind vor allem Sammler, die ihre Nahrung besonders in den Morgen- und Abendstunden suchen. Dabei werden Schilfbulten und das weiche Schlammsubstrat regelmäßig durchstochert. Ergiebige Nahrungsquellen werden immer wieder aufgesucht und so entstehen im Brutrevier regelrechte Rallenstraßen.

Der Speisezettel ist recht vielseitig und reicht von Insekten und Würmern bis hin zu kleinen Amphibien oder Kleinsäugern. Auch Pflanzenteile und Früchte werden nicht verschmäht. Größere Beutetiere sind allerdings die Ausnahme. Zwischen den Zeiten, die die Rallen mit der Nahrungssuche verbringen, legen sie häufig ausgiebige Ruhepausen ein, nehmen ausgiebige Sonnenbäder und putzen sich.

Die ersten Wasserrallen treffen bereits Anfang März im Brutgebiet ein, die meisten Rallen folgen in der ersten Aprilhälfte, jedoch kann der Zug bis in den Juni hinein dauern. Wenige Tage nach der Ankunft besetzen Wasserrallen ein Brutrevier. Halten sich mehrere Brutpaare im Gebiet auf, markieren sie lautstark mit ihrem Erregungsruf, dem kruiit-kruiiit ihr Territorium gegenüber den Artgenossen. Besonders in der Abenddämmerung rufen sich die einzelnen Vögel den Erregungsruf gegenseitig zu und es entsteht ein regelrechter Wasserrallenchor. Die einzelnen Wasserrallenpaare rufen dabei oft so überlappend, daß ein Duett entsteht. Das Weibchen ruft dann höher und schneller und kann so vom langsamer und tiefer rufenden Männchen unterschieden werden. Da jedoch verpaarte wie unverpaarte Vögel duettieren, läßt sich das Verhören eines Duetts nicht unbedingt mit einem Paar gleichsetzen. Nur wo man Männchen und Weibchen deutlich unterscheiden kann, kann man auch von einer Paarbeobachtung sprechen.

Sind Männchen und Weibchen noch unverpaart, locken sie mit einem speziellen Paarfindungsruf nach einem Partner. Beide Geschlechter rufen dabei eine Folge von kurzen "tick"-Elementen, die Strophe des Weibchens schließt jedoch mit einem Triller (pick-pick-pirrr) ab. Außerdem klingt das Weibchen leiser und zarter. Haben sich die Vögel gefunden, findet unmittelbar danach die Verpaarung, d.h. die erste Kopulation statt. Vermutlich dient sie jedoch nur der Paarfestigung, denn das Brutgeschäft läßt noch Wochen auf sich warten.

Bis in den Juni hinein gibt es im Rallenrevier ein Kommen und Gehen. Besonders unverpaarte Vögel tauchen in den potentiellen Brutrevieren auf, balzen einige Tage und verlassen das Revier wieder, wenn die Balz erfolglos war oder das Revier bereits besetzt ist.

Sind die Vögel fest verpaart, sucht das Männchen einen passenden Neststandort. Meist befindet sich dieser am Fuße einer Schilfbulte. Durch Ausmuldebewegungen und Eintragen von abgestorbenen Schilfblättern wird zunächst eine Nestgrundlage geschaffen. Nun fordert das Männchen seine Partnerin mit einer Folge von knarrenden Lauten zur Besichtigung auf. Bald darauf beginnt das Weibchen mit der Eiablage. In der Regel findet sich täglich in den frühen Morgenstunden statt, bis das Vollgelege von 6 bis 9 Eiern (selten mehr) erreicht ist.

Beide Partner brüten. Das Weibchen übernimmt dabei den größeren Anteil, während das Männchen Nest und Revier verteidigt. Bemerkt der brütende Vogel etwas auffälliges, stößt er einen tiefen Knurrlaut aus, wonach der nichtbrütende Partner sofort zum Nest eilt. Das Verhören des Knurrlautes zeigt also eine stattfindende Brut an.

Nach 21 Tagen schlüpfen die Jungen in einem schwarzen Dunenkleid, von dem sich nur der cremeweiße Schnabel abhebt. Die Iris ist in den ersten Wochen dunkelblau, sie färbt sich mit etwa 20 Tagen allmählich grün und wird erst, wie auch der Schnabel, mit etwa einem Jahr die kräftige rote Farbe annehmen. Im ersten Jahr tragen die Jungvögel das sogenannte Jugendkleid, bei dem die Flankenbänderung noch verwaschen ist und die Unterseite von bräunliche Farbtönen bestimmt wird. Erst im zweiten Lebensjahr bekommen Brust und Kopf die stahlblaue Farbe und an Bauch und Flanken findet man die typische schwarz-weiße Bänderung.

Wasserrallen sind eigentlich Nestflüchter, sie bleiben aber etwa fünf Tage im Nest. Hier werden sie ständig von einem der Altvögel gehudert, während der andere unentwegt Futter herbeischafft. Nach dieser Nestlingszeit beginnen die Pulli den Alten zu folgen. Auf diesen Streifzügen haschen sie nun schon selbst nach kleinen Würmern oder Insekten, die Hauptmahlzeiten bekommen sie aber immer noch von den Eltern. Bei Gefahr stoßen die Altvögel einen scharfen Warnruf aus, aus, worauf die Jungen sich blitzschnell verstecken. Hier verharren sie regungslos, bis die Gefahr vorüber ist und die Eltern den Lockruf (dumpfe uh-Laute) ausstoßen. Die Jungen kommen nun selbst wieder hervor oder werden von den Altvögeln zusammengeholt. Dabei werden die Jungen mit dem Schnabel am Hals gepackt und getragen. Neben diesem Jungentransport konnte auch der Eiertransport von einem in ein anderes Nest beobachtet werden.

Im Alter von drei Wochen beginnen bei den Pulli die Konturfedern zu wachsen. Spätestens jetzt beginnen die Altvögel mit der zweiten Brut und werden nun gegenüber den Jungen zunehmend aggressiver. Diese müssen nun das elterliche Revier verlassen, zerstreuen sich zunächst im Brutgebiet und verlassen schließlich das Brutgebiet. Den Jungen der zweiten Brut ereilt dieses Schicksal nicht, sie werden bis in den Herbst hinein im Revier geduldet und verlassen oft mit den Altvögeln zusammen das Brutgebiet.

Eine Besonderheit im Brutverhalten der Wasserralle sind die öfter auftretenden Schachtelbruten. Hierbei legt das Weibchen gleich nach dem Schlupf des ersten Geleges ein Zweitgelege und überläßt die kurze Aufzucht vor allem dem Männchen. Nur wenn dieses mit dem Brüten dran ist, kümmert sich das Weibchen um die Jungvögel.

Mit Beginn des Oktobers setzt der Herbstzug der Wasserralle ein. Die meisten Vögel verlassen nun das Brutrevier und fliegen in ihr Winterquartier. Ringfunde zeigen, daß die meisten unserer Wasserrallen im südlichen England, in Frankreich und im Mittelmeerraum überwintern.

Ist der Herbst lange warm und freundlich, bleiben vereinzelte Brutpaare auch im Brutgebiet und weichen dem strengen Frost erst aus, wenn alle Wasserstellen zugefroren sind. Sie suchen dann Fließgewässer auf, die auch im Winter genug Nahrung bieten. So kommt es, daß man immer wieder auch im Winter Wasserrallen beobachten und verhören kann.